So stolz wie an jenem Donnerstag-Abend zur HEBO-Weihnachtsfeier am 22 Dezember 2018 in der Stadthalle Bad Godesberg war Jonathan aus Karlsruhe – und seine Eltern und Großeltern im Übrigen auch – so stolz war er bis dahin noch nie in seinem ganzen Schulleben. Hatte er doch zuvor die Klasse 4 noch gerade „mit Hängen und Würgen“ geschafft und die Lehrer ihm auch wegen seines ADHS mit auf den Weg gegeben: „Hauptschule, allenfalls Gesamtschule“: nun aber, an der HEBO-Schule ein halbes Jahr später keine 4, eine 3 in Deutsch, alles andere 2 und in Sport gar eine 1. Und damit die Auszeichnung mit dem Klassenbesten Zeugnis, auch seiner Mutter Steffi fiel ein Stein von der Seele! O-Ton: „Anfang des Schuljahres hätten wir damit nie gerechnet, obwohl uns Frau Biegert im Einschulungsgespräch entgegen der Grundschule Hoffnungen gemacht hatte, der Übergang auf die HEBO –Schule war unproblematischer als erwartet.“ Dabei war Jonathan alles andere als ein Überflieger in der Grundschule. Die Mutter: „Die Lehrer hatten uns nicht nur wegen seiner ADHS vorgewarnt, Jonathan hatte sich für seine Leistungen nie anstrengen müssen.“ Und als bald daraus gelernt, dass er sich nicht anstrengen braucht, die Quittung für diesen erlernten Müßiggang: zunehmend schlechtere Noten. Und nun: „neue Schule, neue Klassenkameraden, aber kleinere Klassen und vor allem, so Jonathan, „freundlichere Lehrer, und alles was mit Schule zu tun hat wird im Gegensatz zum Schulstress der öffentlichen Schule in der HEBO-Schule und im Internat geleistet.“
Nach der 4. Klasse geht für die meisten Schüler in Deutschland „der Ernst des Lebens“ los: Sie wechseln wie Jonathan von der Grundschule auf die weiterführende Schule. Einzige Ausnahme Berlin und Brandenburg, dort dauert die Grundschule 6 Jahre. Etwa 1/3 der Grundschüler wechselt aufs Gymnasium, 20% gehen auf eine Realschule und 10% (Tendenz fallend) auf die Hauptschule, der Rest, ca. 25%, auf eine Gesamtschule. Egal welche Schulform Kinder im Anschluss an die Grundschule oder im Laufe ihrer Schullaufbahn besuchen, für einen Großteil bedeutet der Wechsel insbesondere für Kinder mit ADHS einen fulminanten und bedeutsamen Einschnitt, findet er doch sogleich auf 3 Ebenen statt:
- Der fachlich-kognitiven intellektuellen Ebene, wie also komme ich als Schulkind mit den fachlichen Anforderungen der neuen Schule klar?
- Der sozialen Ebene im Hinblick auf die Lehrer und Mitschüler, wie nehmen mich die anderen Schüler auf, sind das Mitschüler und Lehrer, mit denen ich klarkomme?
- Und der emotionalen Ebene im Hinblick auf anstehende Bindungs- und Beziehungserfahrung im Hinblick auf Akzeptanz oder Ablehnungserfahrungen
„Das ist eine für alle Kinder in dieser Phase herausragende Entwicklungsstufe, die vergleichbar die Anforderungen eines Stellenwechsels für Erwachsene im Berufsleben erheblich übersteigt“. So bestätigen die Untersuchungen der Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin Frau Prof. Dr. Bettina Hannover von der FU Berlin. „Gilt dies schlechthin bereits für alle Schülerinnen und Schüler, so für ADHS-betroffene in ganz besonderer und risikobehafteter Weise; und ein Schulwechsel ist damit eine starke Herausforderung für alle Beteiligten: Eltern, Lehrer und insbesondere die betroffenen Kinder. Und immer ist der Neustart auch noch mit einem Schulortwechsel, Methodenwechsel, Bezugspersonenwechsel und i.d.R. höheren intellektuellen Anforderungen usw. verbunden“.
Eine insbesondere bei ADHS für alle Beteiligten einschneidende tiefgreifende, allumfassende Herausforderung und ein Ereignis, das Kinder tief belasten kann. Geht es doch an dieser wichtigen Schwelle um die Wahrung des folgenden Grundsatzes: „Kinder sind verschieden!“ heißt Kinder bringen auf allen Ebenen Schule, Gleichaltrige, bisherige Lehrer, Familie und Geschwister unterschiedliche Fähigkeiten und Vorerfahrungen mit.
Schule muss nun ihre Verpflichtung auch darin sehen, dafür zu sorgen, dass sie, insbesondere die Kinder mit ADHS, dabei dennoch gleiche Chancen bekommen!“
Es geht nämlich um viel mehr als nur um höhere fachliche Anforderungen in Mathe, Deutsch oder Englisch: Im schlimmsten Fall ist es oft die Regel, dass:
- Bewährte Freunde zurückgelassen werden müssen.
- Das Kind muss die soziale Position in der Gruppe neu erarbeiten, neu erwerben.
- Auf ganzer Breite gewohnte Lehrer sind von heut auf morgen dem Fachlehrer-Prinzip geopfert, die man 1-2 Stunden pro Woche hat und die nach einem halben Jahr immer noch nicht die Namen aller Schüler kennen.
- Lehrer, die sich im schlimmsten Falle nicht auf den Weg machen, den Kontakt zu der bisherigen Schule zu suchen, Vorerfahrungen auszutauschen. Um nur einige wenige Herausforderungen des Schulwechsels zu benennen.
All dies gilt im Übrigen nicht nur beim Grundschul- / Weiterführende-Schule-Übergang sondern, bei jedem auch späteren Schulwechsel schlechthin. Und mancher Schüler wird bis dahin schon die Erfahrung gemacht haben, dass er in Leistungen abrutscht, und mit den neuen Klassenkameraden irgendwie nicht optimal klargekommen ist. (Der Mangel an positiver Sozialintegrationserfahrung gehört zu den ausgeprägtesten sozial-emotionalen Komorbiditäten bei ADHS). Sie als Eltern und besonders wir als Lehrer der HEBO-Schule müssen daher jetzt, gerade in dieser schulwechselbedingten neuen, verunsichernden kritischen Phase viel Aufmerksamkeit einbringen, den Blick für die sozialen und emotionalen Anpassungsprozesse wahren, die sich in den nächsten Tagen und Wochen ergeben, dabei taktvoll und ohne Druck und ohne beziehungslose Erwartungshaltung beobachten. Es geht darum, sich mit Empathie wertfrei und ergebnisoffen austauschen, ein Ohr für die Eltern und 2 Ohren für jedes Kind zu haben, d.h.
- Frühe Gespräche in positiver Erwartungshaltung
- Dadurch den Prozess der individuellen pädagogischen Begleitung fürs Kind erfahrbar machen
- Durch Geduld, Akzeptanz, Empathie, einfühlendes Verstehen
- Durch Bindung und Beziehung zu ihren Kindern im Eltern-Lehrer-Kind-Dreieck der Schule.
Halt alles, was den Prozess des Lernens als positiv erfahrbar macht und machen kann. Dazu gehört aber auch
„Warnsignale“ im Ansatz zu erkennen, das kann sein
dass ein Kind sich zurückzieht
- Von Anfang an mitzubekommen, wenn ein Kind im Sozialverband der Klasse beginnt isoliert zu sein. Sofort
- Mitzubekommen, wenn ein Kind nicht angemessen in der Gruppe integriert ist
- Mitzubekommen, wenn ein Kind spezifische Hilfen und individuelle Unterstützung und Förderung benötigt, anstatt wegzusehen, es so zu sagen auflaufen zu lassen. („Es gibt keine hoffnungslosen „Fälle“, allenfalls hoffnungslose Lehrerinnen und Lehrer“).
Dabei wissen wir sehr wohl, dass derartiges, (aufwändiges) sozial-emotionales Klassenmanagement, für Lehrer von Klassen mit 28-32 Schülern nur mit Mühe und großer pädagogischer Empathie leistbar ist.
Es klingt paradox:
Aber gerade Kindern, die an der Grundschule kaum Aufwand betreiben mussten, bekommen bisweilen am Gymnasium schnell Probleme und zum ersten Mal eine 4 oder eine 5 in der Klassenarbeit, weil sie
- Nie gelernt haben, zu lernen
- Oft nicht gelernt haben, negative Erfahrungen konstruktiv zu bewältigen
- Nie gelernt haben, wie man richtig lernt, Probleme, Schwierigkeiten durchzustehen, auszuhalten ohne zu blockieren oder gar zu verweigern.
Besonders ADHS-Kinder sollen in der Schule die Erfahrung machen, dass Sie = zu allererst die Kinder, und nicht der Unterrichtsstoff im Mittelpunkt stehen, gemäß dem Motto
„Aufrichten statt unterrichten“
Kinder sollen die Erfahrung machen, dass positives Mittun, dass Anstrengung und Fleiß, dass Bemühen und Motivation zu positivem Feedback, zu lobender Bestätigung führen und dies alles nicht als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Jeder / jede soll auf der Stufe seines / ihres Könnens wahrgenommen und auch dort abgeholt werden, also „Fördern statt Fordern“
Dann wird aller Anfang nämlich nicht schwer, allerdings gilt:
„Auf den Anfang kommt es an! – ganz besonders für Schülerinnen und Schüler mit ADHS!“
Prof. Dr. h.c. Hans Biegert, Schulträger und Gründer der HEBO-Privatschule, Bonn
Quelle intern: „Schuljahresansprache 2019/2020“
Welt am Sonntag, 8/2019
Rückmeldung erbeten an: Hans.Biegert@hebo-schule.de